Mit 4 Jahren glaubten wir noch an den Nikolaus. Der kam zu uns immer am 5. Dezember-Abend und brachte Geschenke. Zuvor las er in seinem dicken Buch nach, was man alles angestellt oder gut gemacht hatte. Damals, vor mehr als 50 Jahren, war es üblich, dass er auch eine Rute dabei hatte und unartigen Kindern damit ein paar auf den Po gab. Das tat nicht weh, aber alle Kinder hatten einen Mordsrespekt vor diesem Mann mit weißem Bart. Und alle hofften auf seine guten Gaben. In diesem Jahr hatten sich unsere Eltern seit ein paar Tagen heftig gestritten und erst am Nikolausmorgen wieder versöhnt. Als es Nachmittags dunkel wurde, begannen wir auf den Nikolaus zu warten. Er kam und kam nicht. Schließlich wurde Mutti die Warterei zu lange. „Ich geh mal schnell in den Keller, Kohlen und Kartoffeln für Morgen rauf holen.“ „Aber Mama, wenn der Nikolaus inzwischen kommt?...“ „Ich bin ja gleich wieder da, den treffe ich dann schon“, sagte sie und verschwand. Kurze Zeit drauf klopfte es an der Tür. Draußen stand er, der Nikolaus und bat um Einlass. Naonna und ich wollten schnell die Mutti holen, Papa hielt uns aber zurück. Der Nikolaus ließ uns Kinder singen und Gedichte auf- sagen, verteilte Lob und Tadel und gab uns Süßigkeiten, Nüsse und Äpfel. Die Rute behielt er bei sich. Dann blickte er in sein Buch und fragte er nach unserer Mutter. Sie war nicht ganz brav gewesen. Und er las vor, dass sie sich mit Vater gestritten hatte. „Aber du, Paul, du warst ungezogen zu deiner Frau“, polterte er Papa an. „Dafür hast du Hiebe mit der Rute verdient!“ „Nein, nein, bitte verschone mich. Wir vertragen uns ja schon wieder, lieber Nikolaus“, rief unser Vater. Nikolaus tat wütend und wollte ihm auf jeden Fall eine Abreibung geben. Paps wich ihm mit ängstlichem Gesicht aus und rief: „Xammi, NaOnna, so helft mir doch!“ Wir schrien ihm zu: „Wehr dich, Papa!“ Er entwich dem Nikolaus immer wieder und rief uns zu: „Helft mir doch!“ Meine Zwillingsschwester begann zu weinen. Ich konnte das nicht fassen: unser starker Vater tat nichts, um sich zu helfen. Er war nur auf der Flucht! Mich packte Zorn. Was bildete dieser fremde alte Mann sich eigentlich ein? Nikolaus hin, Nikolaus her. Das durfte der sich nicht rausnehmen. Trotz meiner Angst vor ihm, beschloss ich, meinem Vater zu Hilfe zu kommen, und versetzte dem bösen Nikolaus einen gut gezielten, kräftigen Tritt vors Schienbein. Das hat gesessen! Der Alte zog nun hinkend ab. Das verdutzte Gesicht unseres Vaters hättet ihr mal sehen sollen! Nach einer Weile erschien Mutti, und wir berichteten ihr aufgeregt von dem bösen Nikolaus. Aber sie hörte gar nicht zu, sondern weinte. Sie war im Keller gestolpert und hingefallen. Sie hatte große Schmerzen und blutete am Schienbein. Es war genau die Stelle, die ich beim Nikolaus getroffen hatte. |